Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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Der unbedingte Geltungsanspruch von Normen schließt nicht aus, daß Güter, die durch eine Norm geschützt werden sollen, miteinander in Konkurrenz geraten. Bei der sittlichen Urteilsbildung muß dann bedacht werden, welchem Gut im einzelnen der Vorrang zu geben ist.

Auch die Art und Weise, wie der Mensch in verschiedenen Lebensbereichen gesehen wird, kann sich wandeln. So gibt es zwischen der Sicht der menschlichen Sexualität zur Zeit des heiligen Augustinus oder des Thomas von Aquin und der Sicht des Zweiten Vatikanischen Konzils große Übereinstimmungen, aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Letztere spiegeln die Erweiterung medizinischer und anthropologischer Erkenntnisse, aber auch kulturelle Erfahrungen wider, die auf die Bewertung der Sexualität und der Ehe großen Einfluß gewonnen haben. Eine Humanisierung der menschlichen Sexualität und der ehelichen Gemeinschaft, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil aufzeigt, hätten Augustinus oder Thomas von Aquin und sogar das kirchliche Rechtsbuch von 1917 so noch nicht sehen können. Daran wird deutlich, daß das Ethos in unterschiedlichen geschichtlichen Stadien eine unterschiedliche Gestalt gewinnt, in der Bewährtes bewahrt wird und Neues sich bewährt.

Wie sehr es auch zu Wandlungen im Ethos und in Normen kommt, die Gebote Gottes selbst beziehen sich auf so fundamentale Werte, daß unser Menschsein gefährdet ist, wenn wir uns nicht an sie halten. Ihre Auslegung ist in der Geschichte wechselvoll und manchmal auch dunkel gewesen. Indem sich die Kirche aber immer an sie zurückgebunden wußte, konnte sie sich nie von ihnen abwenden.

Wir leben heute in einer Zeit großer Umbrüche des Empfindens, Denkens und Wertens. In der Vielfalt der Meinungen, Anschauungen und Überzeugungen ist es nicht immer einfach, das herauszufinden, was vor Gott sittlich gut und richtig ist. Hier müssen wir uns auf die Quellen des Glaubens und auf die sittlichen Überzeugungen des ganzen Gottesvolkes besinnen. Wo ein erweitertes Verständnis und eine vertiefte Auslegung von bisher geltenden Normen notwendig ist, muß immer der Wert beachtet werden, der geschützt werden soll (vgl. dazu VS 53). Ein Beispiel dafür gibt uns das Zweite Vatikanische Konzil in der Frage der Religions- und Gewissensfreiheit. Nach der früheren Auffassung wurde dem subjektiv Irrenden zu wenig Rechnung
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