Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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gerade bei denen suchen, die aus ihrem Glauben heraus das menschliche Verhalten beurteilen.

In der Gemeinschaft der Kirche begegnet ein Christ, der für sein Gewissen nach Orientierung sucht, auch den Äußerungen des kirchlichen Lehramtes. Sie sind ein sittlicher Anspruch an das Gewissen. Die lehramtliche Weisung zielt nicht auf eine Knechtung des Gewissens, sondern auf die Klärung der Erkenntnis des sittlich Richtigen. Darin dient das kirchliche Lehramt dem Gewissen des einzelnen. Dieser Dienst ist schwierig, aber er ist sinnvoll und unverzichtbar. Das Lehramt kann in der Verkündigung der sittlichen Botschaft nicht in jedem Einzelfall Orientierungen mit letztgültiger Verbindlichkeit vorlegen, aber es kann die Gläubigen auch nicht ohne jede sittliche Orientierung und Weisung allein lassen. Manchmal sieht es sich verpflichtet, sich zu äußern, auch wenn diese konkrete Äußerung weder alle denkbaren Aspekte erfaßt noch eine definitive Entscheidung sein will. Lehräußerungen zu moralischen Fragen haben unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit. Diese stufen sich nach einer Rangordnung ethischer Fragen. Grundsätzliche Lehräußerungen wie zum Beispiel zur Einheit der Ehe und zur Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe haben einen anderen Rang als Äußerungen etwa zur konkreten Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Das Gewissen des Christen wird die Hilfen der Kirche für konkrete Lebensfragen in rechter Gesinnung beachten, doch kann ihm niemand die persönliche Gewissensentscheidung abnehmen.

Die Unübersehbarkeit der modernen Welt läßt es immer weniger zu, daß jede Einzelheit des zu verantwortenden Verhaltens bereits normativ allgemeingültig geregelt werden kann. Auch werden Normen zumeist in einer so abstrakten Formulierung geboten, daß sie die Vielfalt und Unübersehbarkeit der Handlungssituationen nicht erfassen. Dadurch kann das Gewissen in Spannung zu vorgegebenen positiven Normen geraten.

Die christliche Ethik sucht die Spannung zwischen positivem Gesetz und Gewissen mit Hilfe der Epikie zu lösen. Die Tradition versteht unter Epikie (griechisch: epieikeia, lateinisch: aequitas = Billigkeit) das rechte Verhalten des Menschen, das im Umgang mit positiven Gesetzesnormen nach dem Prinzip der Zumutbarkeit, der Angemessenheit und der Billigkeit vorgeht. Nach Thomas von Aquin ist die Epikie "gleichsam eine höhere
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