Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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Regel für die menschlichen Akte" (S. th. II II q. 120, art. 2). Es kann sein, daß in einer konkreten Situation der Sinn einer Norm sich nicht erfüllt, wenn man sie dem Wortlaut nach einhält. In der Epikie erfaßt der Mensch den in der Norm zu schützenden Wert und handelt im Einzelfall gegen den Buchstaben des Gesetzes, um dessen Geist gerecht zu werden. Epikie ist eine sittliche Haltung, die in der Gewissensfreiheit gründet. Epikie setzt Verantwortung für die Norm wie für die eigene Person, ein wirkliches Wertempfinden und Klugheit voraus. Es geht in der Epikie weder um Willkür und Laxheit noch um den Versuch, geltende Normen zu umgehen, sondern es geht um Mündigkeit im Tun dessen, was das Gewissen für sich als das Bessere und Anspruchsvollere erkennt.

Von dieser Sicht her entspricht die Antwort auf die Frage nach dem Gewicht des Gewissens als "letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit" (VS 60) der des Apostels Paulus (vgl. S. 124-127): In einer Situation, in welcher der einzelne in einer Spannung zwischen Norm und Gewissen handeln muß, ist seine Gewissenserkenntnis und sein Gewissensurteil für ihn die letzte Norm seines Handelns. Da aber seine Gewissenseinsicht keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit hat, muß er bereit sein, sich immer neu zu prüfen. Für seine persönliche Gewissensbildung ist entscheidend, daß er innere Barrieren gegen die sittlichen Forderungen abbaut und eine wachsende Einsicht in den Wert des Wahren und Guten gewinnt.

4. Gewissenserziehung und Gewissensbildung

4.1. Das mündige Gewissen als Ziel der Gewissenserziehung und Gewissensbildung

Wir sind nicht nur vor unserem Gewissen verantwortlich, sondern auch für unser Gewissen. Wir müssen es bilden, damit es ein "mündiges Gewissen" ist. Das Wort vom "mündigen Gewissen" ist heute weitverbreitet, doch verstehen viele Menschen darunter ganz Unterschiedliches. Mancher meint, er sei mündig, wenn er das tut, was den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Ein anderer glaubt, Mündigkeit bestehe darin, daß er sich von jeder "Bevormundung" durch Autoritäten, Gesetze und Normen löse und sich frei selbstverwirkliche. Diese
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