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ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden. Ich unglücklicher Mensch!" (Röm 7,15.17-19.22-24) Nach dieser Darlegung der katholischen Lehre von der Ur- und Erbsünde fragen wir: Bestehen in diesen Fragen die dargestellten kirchentrennenden Lehrunterschiede fort, oder sind sie inzwischen ökumenisch aufgearbeitet? Wir können auf diese Frage erst später ausführlich eingehen, wenn vom Zentrum der Kontroverse zwischen den Reformatoren und der katholischen Kirche, von der Rechtfertigungslehre, die Rede ist. Soviel ist aber schon an dieser Stelle deutlich: Das unterschiedliche Verständnis der Ursünde und der Erbsünde sowie die Frage, ob die natürliche Gottebenbildlichkeit nach der Sünde erhalten blieb oder nicht, haben Konsequenzen für die Frage der Mitwirkung des Menschen bei der Rechtfertigung und Heiligung.
Dies ist jedoch nicht nur ein lehrhaftes Problem, sondern führt zu einer unterschiedlichen lebensmäßigen Einstellung zur Wirklichkeit. Dem Pelagianismus entspricht ein Optimismus, wie er vor allem im Zusammenhang der Aufklärung und ihres Fortschrittsglaubens wieder aufkam. Die Abgründigkeit des Bösen und die Notwendigkeit der Erlösung werden dabei leicht verkannt. Die reformatorische Lehre von der radikalen Verderbtheit des Menschen durch die Sünde und vom Verlust der natürlichen Gottebenbildlichkeit des Menschen führt dagegen oft zu einer pessimistischeren Beurteilung der menschlichen Natur und Kultur. Die katholische Lehre, nach der die menschliche Natur durch den Verlust der gnadenhaften Gemeinschaft mit Gott zwar verwundet, aber nicht total zerstört wurde, geht gewissermaßen einen realistischen Mittelweg. Sie stimmt mit der reformatorischen Lehre darin überein, daß der Mensch hinsichtlich seines Heils ohne die rettende Gnade absolut nichts vermag. Trotzdem setzt sie ein größeres Vertrauen in die natürlichen und kulturellen Möglichkeiten des Menschen. Zumindest diese unterschiedlichen lebensmäßigen Einstellungen wirken bis heute nach und bestimmen die Atmosphäre in den getrennten Kirchen und zwischen ihnen.Die Lehre von der Universalität der Sünde hat eine vielfache praktische Bedeutung. Sie sagt: Jeder Mensch ist Sünder. "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns" (1 Joh 1,8). Diese Lehre zerstört die Illusionen, die wir uns selber machen und führt uns dazu, nicht länger unserer Schuld auszuweichen, sie zu bagatellisieren und immerzu nur fremde Sündenböcke zu suchen: die anderen, das Milieu, das Erbe und die Anlagen, die Strukturen und die Verhältnisse. Die Lehre von der Erbsünde sagt uns aber auch, daß wir bei der konkreten Zuweisung von persönlicher Schuld vorsichtig sein müssen und nicht vorschnell urteilen und verurteilen dürfen. Letztlich sieht nur Gott ins Herz des Menschen. Er aber will nicht verurteilen,
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