Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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und ähnliche Vorstellungen von Mündigkeit haben mit wirklicher Mündigkeit nichts zu tun. Wer sich individualistisch auf die Erfüllung seiner Wünsche und Begierden konzentriert, macht sich von seinen Wünschen und Begierden abhängig; und wer sich auf Kosten anderer selbstverwirklichen will, handelt nicht mündig, sondern verantwortungslos. Mündigkeit ist nicht Beliebigkeit und Rücksichtslosigkeit, sondern angesichts der sittlichen Forderung frei übernommene Verantwortlichkeit. Sie ist mit der Bereitschaft verbunden, wirklichkeitsgerecht zu handeln. Ein mündiges Gewissen ist ein sittlich reifes Gewissen, das sich bewährt in der Verwirklichung sittlicher Überzeugungen, in der verantwortlichen Annahme von Werten und in der sach- und situationsgerechten Bewältigung von Konflikten.

Hierzu ist der Mensch immer auf dem Wege. Das mündige Gewissen ist nie mit sich fertig; es muß beständig reifen.

In der heutigen Welt werden wir von allen Seiten mit einer Fülle von Wörtern, Meinungen, Behauptungen und Überzeugungen konfrontiert. Unterschiedliche Weltanschauungen, Ideologien und Lebensstile drängen sich uns auf, suchen uns zu beeinflussen und für sich zu gewinnen. Um diesem breiten Ansturm begegnen zu können, ist vor allem die Wachsamkeit des Gewissens nötig. Welchem Wort leihen wir unser Ohr? Von welcher Meinung lassen wir uns beeinflussen? Welcher Lebensstil zieht uns an? Wachsamkeit des Gewissens meint in alledem für den Glaubenden in erster Linie, daß er Ohr und Herz öffnet für das Wort Gottes. Das wache Gewissen hört auf die Worte, die Jesus sagt, und schaut auf ihn selbst, auf sein Leben für die Menschen und mit den Menschen, auf seinen Ruf zur Nachfolge und auf seine Weisung. Ein waches Gewissen bewertet alles im Licht des Evangeliums und sucht zu unterscheiden, ob und wie in menschlichen Worten und Überzeugungen, Urteilen und Lebensstilen Elemente enthalten sind, die den Menschen der Wahrheit über sich selbst näher bringen, die "Zivilisation der Liebe" (PP 76) fördern und so dem Geist des Evangeliums entsprechen.

Das Neue Testament verbindet mit der Wachsamkeit des Gewissens das Gebet: "Wachet und betet" (Mk 14,38 par.; Lk 21,36). Im Gebet öffnen wir uns für Gott, hören auf sein Wort und gewinnen im Gespräch mit ihm die Bereitschaft, auf seinen Willen einzugehen. So werden wir in der Wachsamkeit des
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