Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
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Testaments und erinnert vor allem an das Danklied der Hanna nach der Geburt des Samuel (vgl. 1 Sam 2,1-10). In diesem Lied erweist sich Maria als die Prophetin, die neben, ja über den großen Frauen und Männern aus der Geschichte ihres Volkes steht. Wie sie weiß Maria, daß Gott allein Ehre und Ruhm, Preis und Dank gebühren. Deshalb verkündet sie die Umwertung aller irdischen Wertungen. "Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen" (Lk 1,52-53). Mit diesem ganz vom Geist des Alten Testaments geprägten Loblied nimmt Maria zugleich das Evangelium des Neuen Testaments vorweg, vor allem die Seligpreisungen der Bergpredigt für die Armen, Kleinen, Trauernden und Verfolgten. Sie bezeugt mit ihrer ganzen Existenz das Evangelium Jesu Christi: Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten (vgl. Mk 10,31). Nicht umsonst ist das Magnificat ein Teil, ja der Höhepunkt des täglichen feierlichen Gebetsgottesdienstes der Kirche (Vesper) geworden. Damit ist Maria die Repräsentantin des Lobpreises, den die Kirche Gott aufgrund seiner geschichtlichen Großtaten schuldet.

So ist Maria das große Vorbild und Urbild des christlichen Glaubens. Sie ist Vorbild adventlicher Hoffnung, gläubiger Ganzhingabe und des Dienens aus dem Geist der Liebe. Sie ist Urbild des auf Gottes Wort hörenden und zu Gott betenden Menschen. Sie bewahrt und erwägt in ihrem Herzen, was sie von Gott her gehört und gesehen hat (vgl. Lk 2,19.51). In ihrem Glauben bleibt Maria aber die Fragende und Suchende. Sie ist die Schmerzensreiche, die Schmerzensmutter, die sich unter dem Kreuz mit dem Opfer ihres Sohnes verbindet. Nicht zuletzt ist sie die arme, demütige Magd des Herrn.

All das können katholische und evangelische Christen gemeinsam von Maria sagen. Der Evangelische Erwachsenenkatechismus schreibt unter der Überschrift "Maria gehört in das Evangelium": "Maria ist nicht nur ,katholisch`; sie ist auch ,evangelisch`. Protestanten vergessen das leicht. Aber Maria ist ja die Mutter Jesu, ihm näher als seine nächsten Jünger. Mit welcher Menschlichkeit zeichnet das Neue Testament diese Nähe, ohne Marias Abstand von Jesus zu verschweigen! Ein Beispiel für diesen Abstand steht ausgerechnet bei Lukas, der so viel von Maria erzählt. Da sagt eine Frau aus der Menge zu Jesus: Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast.` Jesus entgegnet: 'Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren` (11,27-28). Aber gilt nicht genau das für Maria? Sie wird als die beispielhafte Hörerin des Wortes Gottes gezeichnet, als die Magd des Herrn, die ja zu
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