Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
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Maria ist also ein Zeichen, daß Gott und seine Gnade all unserem Sein und erst recht all unserem Tun vorausgehen und ihm zuvorkommen, so daß wir nichts aus uns, alles aber aus Gott und in Gott sind.

Maria ist jedoch nicht nur Urbild der Erwählung und Begnadung jedes Christen; sie ist die Begnadete in einem ganz einmaligen Sinn, der sich aus ihrer einmaligen Stellung in der Heilsgeschichte ergibt. In ihr verdichtet sich in der Fülle der Zeit die Erwählung Israels. Die Israel gegebene Verheißung wird dadurch Wirklichkeit, daß sie an Stelle der ganzen Menschheit durch ihr Ja das Ja Gottes annimmt (Thomas von Aquin). Dieses "mir geschehe, wie du es gesagt hast" (Lk 1,38) ist nicht ihre eigene moralisch-religiöse Höchstleistung; es ist nur als von der Gnade Gottes ermöglichte und getragene Antwort des Glaubens möglich. Maria, die durch ihr Ja das Kommen der Fülle der Gnade ermöglichte, muß also selbst "voll der Gnade" sein.

Auf diesem Hintergrund wird das Dogma verständlich, das Papst Pius IX. im Jahr 1854 verkündete:
"Die seligste Jungfrau Maria blieb im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt." (vgl. DS 2803; NR 479)
Dieses Dogma von der "Unbefleckten Empfängnis" Marias begegnet dem offensichtlich unausrottbaren Mißverständnis, als sei der Akt der Zeugung und der Empfängnis normalerweise etwas Beflecktes oder Befleckendes. Doch abgesehen davon, daß ein solches Mißverständnis der kirchlichen Lehre vom Gutsein der Schöpfung widerspricht, will der Glaubenssatz nichts über den religiös-sittlichen Zustand der Eltern Marias bei ihrer Empfängnis sagen, sondern lediglich etwas über die unbefleckt Empfangene selbst. Es soll gesagt werden, daß sie vom ersten Augenblick ihres Daseins an frei von der Erbsünde war. Sie wurde nicht wie die übrigen Menschen in die Gottesferne hinein empfangen, sondern von allem Anfang an ganz von der Liebe und Gnade Gottes umfangen. Deshalb war sie auch in ihrem späteren Leben ganz ohne persönliche Sünde. Sie
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