Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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An erster Stelle steht die Bitte um materielle Versorgung mit dem Grundnahrungsmittel Brot. Wörtlich wird man übersetzen müssen: "unser notwendiges Brot" oder vielleicht sogar: "Unser Brot für den morgigen Tag gib uns heute." Es geht in dieser Bitte nicht um mittel- oder langfristige Vorsorge, sondern es geht um die Haltung der Sorglosigkeit, die darauf vertraut, daß Gott weiß, was wir Menschen brauchen (vgl. Mt 6,32) - auf eine für den Alltag praktizierbare Formel gebracht: Auch der noch so religiöse Mensch lebt nicht von der Luft, auch nicht vom Wort allein (vgl. Mt 4,4); auch er braucht Brot zum Leben. Auch er darf zunächst an die primären Lebensbedürfnisse denken, bevor er sich - wie es ab der nächsten Bitte geschieht - die eigentlich ethischen und existentiellen Fragen zu Herzen nimmt. Und vor allem: auch der religiöse Mensch braucht sich nicht schäbig vorzukommen, wenn er Gott um die einfachen, für das alltägliche Leben notwendigen materiellen Dinge bittet.

Das Typische an der zweiten Wir-Bitte ist der Gedanke der göttlichen und menschlichen Vergebung: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."

Im Rahmen des Matthäusevangeliums denkt man sofort an das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger (18,23-35). Es erzählt davon, daß einer zwar von seinem Herrn große "Schulden erlassen" bekommt, selbst aber nicht bereit ist, seinem Mitknecht eine kleine "Schuld" zu "erlassen". Natürlich ist hier und in der Vaterunser-Bitte von "Geldschuld" im übertragenen Sinn die Rede: Es ist daran gedacht, was Menschen Gott und einander "schuldig" bleiben. Die Vergebung von Schuld durch Gott, wie sie die Gemeinde zum Beispiel im Abendmahl feiert (Mt 26,28), muß Konsequenzen für das tägliche Miteinander haben. Das ist das Thema des Gleichnisses und unserer Vater-unser-Bitte.

Alle diese eindringlichen Worte sind um eine alte kirchliche Regelung gruppiert, die allerdings ganz andere Töne anschlägt. Wer sich gegen einen anderen verfehlt, soll zunächst unter vier Augen zurechtgewiesen werden; hört er nicht, sollen Zeugen hinzugenommen werden; hört er auch auf sie nicht, soll er vor die Gemeinde gestellt werden; wenn er auch auf die Gemeinde nicht hört, dann, so heißt es in der Regel, "sei er dir wie ein Heide und ein Zöllner" (Mt 18,15-17), das heißt, er soll aus der Gemeinde ausgeschlossen werden; und dieser Ausschluß wird als eine "Lösung" bezeichnet, die auch im Himmel "zu Buche schlägt" (vgl. Mt 18,18). Die Kontrastwirkung liegt auf der Hand: Die Gemeinde, die den Wortlaut ihrer kirchlichen Regelung plötzlich im Zusammenhang von eindringlichen Worten über Barmherzigkeit und unbegrenzbarer Versöhnungsbereitschaft hört, wird nicht umhin können, ihre "altbewährte" Praxis neu zu bedenken. Und jedesmal, wenn sie die Vergebungsbitte im Vater-unser spricht, wird sie sich fragen müssen, ob sie denjenigen, die sie ausgeschlossen hat oder die sie ausschließen will, wirklich nachgegangen, ihnen wirklich entgegengekommen ist und Versöhnung angeboten hat, mit einem Wort: ob ihr Gebet mit ihrer Alltagspraxis wirklich übereinstimmt. Um
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