Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
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das Kreuz den Menschen in der Nacht des Leidens und Sterbens aufzurichten; im Blick auf den gekreuzigten Jesus darf er "gegen alle Hoffnung voll Hoffnung" sein (vgl. Röm 4,18). Denn nichts kann "uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn" (Röm 8,39).

Bei allem Wissen um den Sieg des Kreuzes darf der Christ nicht triumphalistisch werden und das bleibende Ärgernis des Kreuzes nicht vergessen. Gerade unserer Epoche liegt das "Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn" (Gotteslob 179) näher als das Kreuz als Siegeszeichen. Der Gekreuzigte bezeugt Gottes Liebe gerade für die Erniedrigten, Beleidigten, Unterdrückten, Hungernden, Vertriebenen, Gefolterten, für alle, die voll Angst sind und am Sinn ihres Lebens verzweifeln möchten. Die Seligpreisungen der Bergpredigt für die Armen, Trauernden, Gewaltlosen, nach Gerechtigkeit Hungernden (vgl. Mt 5,3-6; Lk 6,20-22) erfahren im Kreuz Jesu Christi ihre endgültige Bestätigung. In den Hungrigen, Fremden und Obdachlosen, Nackten, Kranken, Gefangenen ist der Gekreuzigte bleibend präsent (vgl. Mt 25,35-36.40). Diese Glaubensüberzeugung müßte uns Christen sensibel machen gegen die in unserer Gesellschaft wachsende Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden, gegen seine Verdrängung und Tabuisierung; sie sollte uns wieder leidens- und mitleidensfähig machen (vgl. Gem. Synode, Unsere Hoffnung I,2). So ist das Kreuz nicht nur Kurzformel und Symbol des ganzen Evangeliums, sondern auch Echtheitszeichen des christlichen Lebens.

4. Hinabgestiegen in das Reich des Todes

Der Glaubensartikel vom Hinabstieg Jesu Christi in das Reich des Todes gehört zu den weithin vergessenen Glaubenswahrheiten; er ist den meisten Christen unverständlich und fremd. Früher hieß es gar: "Abgestiegen zu der Hölle." In diesen Aussagen klingt ein für uns heute überholtes dreistöckiges Weltbild an, vielleicht sogar mythische Motive vom Abstieg von Göttern in die Unterwelt. Was sollen wir heute mit solchen Aussagen anfangen?

Wir kommen dem im Glaubensbekenntnis gemeinten Sinn näher, wenn wir sehen, daß der unmittelbare Hintergrund dieser
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