Menschenlebens in seiner Gottebenbildlichkeit herausstellen und zugleich die Erhaltung des sozialen Ordnungsgefüges schützen.
Als Israel zu einem festen seßhaften Verband und zu einem Staatswesen geworden war, wurde die strenge Handhabung des Gesetzes zum Teil aufgehoben. Es entstanden Unterschiede in der Bewertung der Reichen und der Armen, es gab Unterdrückte und Ausgebeutete, Freie und Sklaven. Die Rechtssprechung bewertete das menschliche Leben ungleich. Das Tötungsverbot verlor seine Geltung als Schutz für jeden einzelnen und wurde vielfach aufgeweicht. Der Grund für diese Entwicklung ist darin zu sehen, daß Israel den ursprünglichen Sinn des befreienden Heilshandelns Gottes an seinem Volk und an jedem einzelnen Menschen aus den Augen verloren hatte.
Die Propheten haben Israel - über den Buchstaben des Mordverbotes hinaus - mit dem "gottgewollten Geist" des Tötungsverbotes vertraut gemacht. Leben bedeutet biblisch mehr als bloßes Existieren, es meint ein menschenwürdiges Dasein. Darum ist für die Propheten bereits jede Art von schwerer wirtschaftlicher Ausbeutung und rechtlicher und sozialer Unterdrückung von Menschen durch Menschen "Blutschuld" (vgl. Hos 4,2; Jes 1,15.17; Mi 3,10; Ez 9,9). Deshalb werden die "Leuteschinder" von Jerusalem und Juda mit den Worten angeklagt: "Sie fressen mein Volk auf, sie ziehen den Leuten die Haut ab und zerbrechen ihnen die Knochen. Sie zerlegen sie wie Fleisch für den Kochtopf, wie Braten für die Pfanne" (Mi 3,3).
Jede Handlung, die einen Mitmenschen zu einer verfügbaren Sache degradiert, liegt für die Propheten auf der Linie zum Mord an ihm. Wer tötet, stellt sich in den Dienst des Todes. Dadurch bringt er nicht nur menschliches Leben zu Tode, sondern vergeht sich gegen den lebendigen und lebenspendenden Gott, der allein Herr über Leben und Tod ist.
Dies lehrt an vielen Stellen auch das Neue Testament. Jeder Mensch ist in seinen Rechten, vor allem im Recht auf Leib und Leben, zu achten und zu schützen. Deutlicher wird das in der Fürsorge Gottes für die Schöpfung und hier besonders für die Menschen (Mt 6,24-32): Gott ist Herr und Erhalter des Lebens (vgl. Mt 10,29-31).
Mordgelüste steigen aus den Herzen der Menschen auf (Mk 7,21; Mt 15,19); solche Taten gehören zu den verwerflichen Handlungen, die von Paulus (Röm 1,29) verurteilt werden. Sie gehören zu den Zeichen der schrecklichen Zeit vor dem Ende, in der Gottlosigkeit und Mord herrschen (vgl. Offb 9,21).
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