Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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wird beim Propheten Micha so zusammengefaßt: "Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott" (6,8). In dieser prophetischen Formulierung sind mitmenschliche Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Gottesliebe aufs engste miteinander verbunden, und dies gerade in der Perspektive, die das Wort "Gerechtigkeit" für das fünfte Gebot eröffnet. Hier wird das Gebot auf das Mitdenken, Mitfühlen und Mithandeln mit den Mitmenschen hin gedeutet. "Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer" (Hos 6,6).

Kennzeichnend für dieses Gottesgebot sind die Aussagen: "So spricht der Herr der Heere: Haltet gerechtes Gericht, jeder zeige seinem Bruder gegenüber Güte und Erbarmen; unterdrückt nicht die Witwen und Waisen, die Fremden und Armen, und plant in euren Herzen nichts Böses gegeneinander" (Sach 7,9f). "Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen" (Jes 58,6f).

Was in den alttestamentlichen Geboten der Gottes- und Nächstenliebe (Dtn 6,4f; Lev 19,18) als Offenbarung des göttlichen Willens verkündet wird und was die Propheten auf das konkrete soziale Tun beziehen, wird in Jesus und seiner Botschaft eindrucksvoll bestätigt und überboten. Er, der die "Gerechtigkeit Gottes" ist und die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes als liebendes Erbarmen bringt, fordert, das Wort des Propheten Hosea (6,6) aufgreifend: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Mt 9,13; 12,7).

Jesus spricht nicht nur deutliche Worte über den kaltblütigen Mord und die Ungerechtigkeit, über die Rücksichtslosigkeit des unbarmherzigen Schuldners (Mt 18,23-35) und über die Herzenshärte derer, die den Halbtoten am Straßenrand liegenlassen (Lk 10,29-37), sondern erweitert auch den allgemeinen Rahmen des Tötungsverbotes. Nicht erst im physischen Totschlag, sondern schon im Zorn und im bösen Wort ist der Tatbestand des Tötens erfüllt: "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein" (Mt 5,21). Wer einen Mitmenschen haßt, setzt ihn in seinem Wert herab und mißachtet seine Würde: "Jeder, der seinen
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