Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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Gegen das Recht auf Selbsttötung gibt es Argumente unterschiedlicher Art. Das Argument der Freiheit besagt, daß die bewußt gewollte Selbsttötung als Akt der freien Entscheidung die Freiheit vorzeitig an ihr Ende bringt und dadurch in letzter Konsequenz das Andauern gelebter Freiheit und Selbstannahme verweigert. Das Argument der Geschöpflichkeit besagt, daß derjenige, der sich selbst tötet, sich gegenüber Gott, dem wir unser Leben verdanken, verweigert und selbstmächtig die Zeit abbricht, die Gott ihm als Heilschance zugedacht hat. So ist die Verweigerung gelebter Freiheit zugleich eine Verweigerung Gott gegenüber.

Bewußte und freiwillige Selbsttötung, auch wenn sie aus hohen Motiven geschieht, ist sittlich nicht gerechtfertigt. Frei gewollte Selbsttötung, durch die jemand bewußt seine Autonomie dokumentieren will, ist ihrer ganzen Natur nach eine Absage an das Ja Gottes zum Menschen. Sie ist auch eine Verneinung der Liebe zu sich selbst, zum natürlichen Streben nach Leben und zur Verpflichtung der Gerechtigkeit und Liebe gegen den Nächsten und gegen die Gemeinschaft.

Unser christlicher Glaube stellt der Verherrlichung der freiwilligen Selbsttötung eine im Glauben begründete Sicht des Lebens gegenüber. Unser Glaube läßt uns darauf vertrauen, daß Gott uns in jeder Situation unseres Lebens wieder einholen kann, sei diese Situation durch eigene Schuld oder durch mißlungene Beziehungen zur Umwelt entstanden.

Die philosophische Diskussion über die Freiheit und über die sittliche Berechtigung, sich in freier Entscheidung das Leben zu nehmen, setzt voraus, daß diese Freiheitsentscheidung auch konkret möglich ist. Das theologische Bemühen um die Erhellung dieses Phänomens hat eine solche Möglichkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen. In der pastoralen Praxis wurde deshalb in früherer Zeit Menschen, die sich das Leben genommen hatten, die kirchliche Beisetzung verweigert. In das neue Rechtsbuch der Katholischen Kirche (CIC) ist diese Anordnung nicht mehr aufgenommen worden, weil sich nicht nachweisen läßt, ob jemand in der Selbsttötung wirklich ein letztes Nein zu sich selbst und zu Gott gesprochen hat und weil die Kirche zwar die Sünde des Selbstmordes verurteilt, nicht aber den Menschen, von dem nicht sicher ist, ob er wirklich ein Selbstmörder ist.

In dieser Einstellung nimmt die Kirche die Ergebnisse der neueren Suizidforschung auf. Diese hat empirisch nachgewiesen, daß der Suizid oft am Ende einer Entwicklung steht, die mit einer starken Einengung der seelischen Selbststeuerung verbunden ist und Ausdruck einer unbewältigten Lebenskrise bzw. eines geminderten Selbstwertgefühls ist. Die meisten Menschen, die einen Suizid begehen, vollziehen darin nicht einen Akt der Freiheit, sondern sie befinden sich in einem außergewöhnlichen
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