Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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Alle diese Indikationen zeigen an, daß das Gut des ungeborenen Lebens in Konflikt mit anderen Gütern geraten kann. Sind diese anderen Güter von so großer Bedeutung und Vordringlichkeit, daß man sie dem fundamentalen Gut des ungeborenen Lebens vorziehen darf? Das ist die eigentliche ethische Frage.

Betrachten wir von dieser Frage her die kriminologische Indikation, so zeigt sich, daß eine Abwägung der hier in Frage stehenden Güter nicht zu einer sittlichen Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruches führen kann. Auch das durch Vergewaltigung oder Notzucht empfangene Kind hat ein fundamentales Recht auf Leben, das Vorrang hat vor dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter. Sicher sind mit einer solchen sittlichen Wertung nicht die vielen Probleme gelöst, die für die Schwangere aus einer aufgezwungenen Schwangerschaft entstehen, aber diese sind nicht dadurch zu lösen, daß das empfangene Kind getötet wird.

Das trifft auf andere Weise auch für die psychische Belastung der Mutter zu, von der die Notlagenindikation spricht. Seelische und soziale Notlagen sind große Übel, aber sie erlauben nicht, daß das empfangene Kind getötet wird; sie sind vielmehr durch Hilfen zu beseitigen, die der Mutter von anderer Seite her zu gewähren sind. Leider fallen für eine solche Hilfe oftmals gerade diejenigen aus, deren Aufgabe es am ehesten wäre, die Frau vor der Entscheidung zur Tötung ihres ungeborenen Kindes zu bewahren: der Vater des Kindes, die Familie und die engere Umwelt. Manchmal verstärken sie durch Druck noch die Not der Schwangeren und treiben sie zum Abbruch. Das gilt nicht weniger für die breite Öffentlichkeit, in der sich die Maßstäbe über den Wert des ungeborenen Lebens beträchtlich verschoben haben. Die allgemeine Mentalität drängt oft in Situationen, aus denen die Schwangere kaum noch einen anderen Ausweg weiß.

Schwierige Probleme kann die Findung des rechten sittlichen Urteils bei der medizinischen Indikation mit sich bringen. Allerdings können heute aufgrund medizinischen Fortschritts die meisten Risiken für die Gesundheit der Mutter (prophylaktische Indikation) so verringert werden, daß medizinisch gesehen lebensbedrohende Situationen selten geworden sind. Somit stellen sich bezüglich einer Güterabwägung bei medizinisch-prophylaktischer Indikation die ethischen Probleme heute im allgemeinen
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