Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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Die Grundfrage allen weisheitlichen Bemühens lautet: "Wie kann das konkrete menschliche Leben vor Gott und der Welt gut werden und damit am besten gelingen?" Diese Frage bewegt die Menschen aller antiken Kulturen. Man versuchte, sie mit Hilfe der Vernunft und der Erfahrung zu beantworten. Der wohl früheste Ausdruck solcher weisheitlicher Lebenserfahrung ist das Sprichwort. So ist es nicht verwunderlich, daß im "Buch der Sprichwörter" sich ein Abschnitt findet (22,17 - 23,12), der sich eng an das ägyptische Weisheitsbuch der Amenemope (um 1000 v. Chr.) anlehnt.

Das Buch Jesus Sirach stellt bei aller Übernahme älteren Weisheitsgutes die Thora Gottes als Inbegriff aller Weisheit vor Augen. Auch das Buch der Weisheit Salomos (1. Jh. v. Chr.) hält diese Position, obwohl es dem griechischen Denken und Sprechen einen breiten Raum einräumt. Die Weisheitsbücher Ijob und Kohelet bringen in unterschiedlicher Weise tiefe Gedanken über den Menschen angesichts seines Leidens und der Leiden in der Welt in die Weisheitslehre Israels ein und brechen auf diesem Gebiet verfestigte Positionen der Tradition auf. In alledem wird deutlich: Jahwe selbst ist in seiner Willensoffenbarung der wahre und der beste Weisheitslehrer Israels.

Die Weisheit wird nicht nur als Kulturgut geschätzt, sondern auch als eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die durch Erfahrung erworben und durch Erziehung vermittelt wird (Sir 9,17). Sie ist aber auch Gabe Gottes, die einzelnen Menschen aus Gnade mitgeteilt wird (Ijob 28,12-17). Als weise gilt, wer Menschenkenntnis, gesunden Verstand und Lebensklugheit besitzt. Ziel des weisen Handelns ist ein ungestörtes individuelles Lebensglück, das durch den Vollzug des erfahrungsgemäßen und klugen Verhaltens unmittelbar verwirklicht wird (Spr 10,4-17). Wo das Gesetz Jahwes Norm weisen Handelns ist, gilt der Sünder als Tor, der Gerechte aber als weise und klug (Ps 14,1). Die Weisheit führt zur Glückseligkeit, zumal der Weise sich ganz bewußt als ein Geschöpf Gottes und als ein Mitglied des von Gott auserwählten Volkes verhält.

Faßt man die Fülle der Aussagen des Alten Testaments zur Frage nach dem Menschen, nach seiner Würde, nach seiner Freiheit, nach seiner sittlichen Bindung und letzten Sinngründung zusammen, so wird deutlich, daß man dem Menschen nur gerecht werden kann, wenn man ihn von seiner Gottesbeziehung
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