Band I - Dritter Teil Das Werk des Heiligen Geistes
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Begegnung mit dem Feuer der Liebe Gottes hat für den Menschen, der sich zwar grundsätzlich für Gott entschieden, aber diese Entscheidung nicht konsequent verwirklicht hat und hinter dem Ideal zurückgeblieben ist - und bei wem wäre dies nicht der Fall! -, eine läuternde und umwandelnde Kraft, die alles beim Tod noch Unvollkommene richtet, reinigt, heilt und vollendet. Das Fegfeuer ist also Gott selbst in seiner reinigenden und heiligenden Macht für den Menschen. Auf diesem Hintergrund sind die Lehraussagen der Kirche über das Fegfeuer verstehbar (vgl. DS 856; 1304; NR 926). Sie lauten in ihrer knappsten Form:
"Es gibt einen Reinigungsort, und die dort festgehaltenen Seelen finden eine Hilfe in den Fürbitten der Gläubigen, vor allem aber in dem Gott wohlgefälligen Opfer des Altares." (DS 1820, NR 907)
Die Kirchen des Ostens teilen mit der katholischen Kirche die Praxis des Gebets und Opfers für die Toten. Aber sie haben den lehrhaften Klärungsprozeß nicht mitvollzogen. Die Reformatoren haben die Fegfeuerlehre ganz verworfen, weil sie in der darin begründeten Praxis des Gebets und Opfers für die Toten einen Angriff auf die Alleingenügsamkeit des Kreuzesopfers Jesu Christi sahen (vgl. CA 24). Aber auch die katholische Lehre mahnt zur Zurückhaltung: "Keinen Platz aber haben in den volkstümlichen Predigten vor dem ungebildeten Volk schwierige und spitzfindige Fragen, die die Erbauung nicht fördern und meist die Frömmigkeit nicht mehren." Die Bischöfe sollen deshalb verbieten, was "nur einer Art Neugierde dient oder dem Aberglauben oder nach schmählichem Gewinn aussieht" (DS 1820; NR 908). So ist bei aller Festigkeit in der Lehre eine deutliche Mahnung zur Nüchternheit festzustellen, die naive oder phantasievolle Spekulationen zurückweist.

Die volkstümliche Rede von den "armen Seelen" ist insofern berechtigt, als deren Armut darin besteht, daß sie sich nicht aktiv, sondern nur passiv läutern und heiligen können. Im Grunde handelt es sich jedoch nicht um "arme Seelen", sondern um Seelen, die den ganzen Reichtum der Barmherzigkeit Gottes erfahren und die uns in der Verwirklichung der Hoffnung und in der Nähe zu Gott einen wesentlichen Schritt voraus sind. Ihr Schmerz besteht im Angesicht Gottes eben darin, daß sie noch nicht lauter genug sind, um sich von Gottes Liebe ganz erfüllen und beseligen lassen zu können. Es handelt sich also um den reinigenden Schmerz der Liebe. In dieser Liebe sind alle Glieder des einen Leibes Jesu Christi solidarisch verbunden. Deshalb können sie betend und büßend füreinander einstehen und so für den Leib Jesu Christi, die Kirche, das ergänzen,
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