Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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und Aufgaben der Zeit nicht übersehen, sondern annehmen und aller Versuchung der Verharmlosung oder der Resignation widerstehen.

Die "radikalen" Forderungen der Bergpredigt sind im Rahmen der Reich-Gottes-Predigt zu verstehen. Das bisherige, in Israel geltende sittliche Gesetz soll nicht abgeschafft, sondern in höchster Weise erfüllt werden (Mt 5,17). Es ist kein Sittengesetz für wenige Berufene, sondern verbindliche Weisung für alle, die nach der Gottesherrschaft streben. Sie sollen den Willen Gottes, wie Jesus ihn verkündet, bis zum äußersten erfüllen. Die Antithesen (Mt 5,20-48) sollen aufzeigen, wie die Gottes- und Nächstenliebe ohne Vorbehalt zu üben ist. "Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen . . ." (Mt 5,43f). Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ist eine Zusammenfassung der in der Bergpredigt geforderten Sittlichkeit. Die Goldene Regel "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen" (Lk 6,31; vgl. Mt 7,12) ist ein praktischer Wegweiser zur Erfüllung der Nächstenliebe, weil sie jedem aus seiner natürlichen Selbstliebe heraus sagt, was er tun soll.

Die "radikalen" Forderungen Jesu greifen bis an den Grund des Herzens (Mt 5,28; 6,20f.24) und rufen den Menschen zu höchster Großmut auf (Feindesliebe), derer er fähig ist. Sie verlangen nicht nur lauterste Gesinnung, sondern zugleich Verwirklichung im Tun. Sie betreffen zuerst die Jüngergemeinschaft (die Kirche), deren Ethos sich jedoch auf die ganze menschliche Gesellschaft auswirken muß. Den Jüngern Christi ist eine Verantwortung für das Wohl aller Menschen und für die Entwicklung des Gemeinwohls der Gesellschaft aufgetragen.

Die Auslegung der Bergpredigt durch die Jahrhunderte zeigt, wie schwierig es ist, die Weisungen Jesu auf die konkreten Weltverhältnisse anzuwenden. Sie hat immer wieder zu Abschwächungen der Forderungen Jesu wie zu schwärmerischer Utopie geführt. Gegenüber diesen Extremen will Jesus unter dem Leitbild der Gottesherrschaft die Herzen herausfordern, um die Welt ihrem eigentlichen Ziel näherzubringen. So bleibt die Bergpredigt eine immer neu zu bewältigende Aufgabe und eine dauernde Herausforderung.
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