Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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Inhaltlich können die radikalen Forderungen Jesu auch Menschen nahegebracht werden, die den christlichen Glauben nicht teilen, aber nach einer "humanen" Ethik streben, die das wahre Wohl aller Menschen erreichen will. Letztlich wird das, was bloß menschliche Maße übersteigt, allein dem Maß des Menschen gerecht. Insofern ist das, was Jesus seiner Jüngergemeinde aufgetragen hat, auch für die ganze menschliche Gesellschaft bedeutsam. Eine vernunftgemäße Ethik vermag vor falschen Folgerungen für das Verhalten in der Welt zu bewahren und von den grundsätzlichen Weisungen Jesu zu praktikablen Handlungsformen zu führen. Doch muß sie sich davor hüten, die radikalen Forderungen Jesu abzuschwächen und ihnen ihre Kraft, die zu Höchsttaten der Liebe treibt, zu nehmen. Das ist eine nie vollkommen zu lösende Aufgabe. Das Bemühen, die Herausforderungen Jesu in der Welt in Taten umzusetzen, bleibt ein nie endender Prozeß.

Jesus hat in seine Verkündigung auch "weisheitliche" Motive aufgenommen, so beim Gebot der Feindesliebe: Gott läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45), oder bei der Mahnung, nicht ängstlich zu sorgen, durch den Hinweis auf die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes (Mt 6,26-30). Aber diese Motive, die an die Einsicht des Menschen appellieren, stehen nicht unverbunden neben seiner Reich-Gottes-Predigt, sondern dienen dazu, die Hörer zur Annahme seiner Botschaft und Forderung zu bewegen: "Seid vollkommen, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Mt 5,48); "sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit" (6,33). Jesu radikale Forderungen sind menschlicher Einsicht nicht unzugänglich, aber sie bleiben für die meisten Menschen "anstößige" Zumutung.

2.4. Die Aufnahme des Ethos Jesu in der Kirche

In den urchristlichen Gemeinden machen sich die Christen die sittlichen Forderungen Jesu zu eigen und bemühen sich um ihre Anwendung auf den konkreten Lebensvollzug. Schon in der Überlieferung der Botschaft Jesu in der Auswahl und Wiedergabe der von ihm überlieferten Worte und Verhaltensweisen zeigt sich die Bindung der Urkirche an den Willen und die Weisung ihres Herrn. Jesus Christus ist für sie die höchste und unangefochtene Autorität, weil er wie einer lehrt, der "(göttliche) Vollmacht hat" (Mk 1,22; Mt 7,28f). Diese Überzeugung wird nach
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