Band I - Erster Teil Gott der Vater
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Über das Verhältnis von Schrift und Kirche kam es im 16. Jahrhundert zur Kontroverse mit den Reformatoren. Diese stellten die These auf, die "Schrift allein" sei "Richter, Regel und Richtschnur" (Konkordienbuch) des Glaubens. Luther war der Meinung, die Schrift sei, wenn man sie von ihrer Sinnmitte, von Jesus Christus, her liest, aus sich klar und lege sich selbst aus. Die Kirche als "Geschöpf des Wortes" stehe nicht über der Schrift. Damit meinte Luther freilich nicht den toten Buchstaben der Schrift, sondern die lebendig verkündigte Schrift, das lebendige Wort Gottes, das sich in der Kraft des Heiligen Geistes immer wieder neu Gehör schafft in der Kirche. Deshalb kann auch nach Luther das Wort Gottes nicht ohne das Volk Gottes sein.

Auch das Trienter Konzil (1545-1563) lehrte, das Evangelium in der Kirche sei die "Quelle aller heilbringenden Wahrheit und sittlichen Ordnung" (DS 1501; NR 87). Aber das Konzil lehnte es ab, die Schrift zu einer sich selbst auslegenden richterlichen Instanz in der Kirche zu machen. Die Frage ist ja, wer die Schrift jeweils gültig interpretiert. Dazu lehrte das Konzil:
"Niemand soll es wagen, in Sachen des Glaubens und der Sitten, die zum Aufbau christlicher Lehre gehören, die Heilige Schrift im Vertrauen auf eigene Klugheit nach seinem eigenen Sinn zu drehen, gegen den Sinn, den die heilige Mutter, die Kirche, hielt und hält - ihr steht das Urteil über den wahren Sinn und die Erklärung der heiligen Schriften zu -, oder auch die Heilige Schrift gegen die einstimmige Auffassung der Väter auszulegen..." (DS 1507; NR 93)
In der Zwischenzeit ist es in dieser Frage zu einer erheblichen Annäherung gekommen. Das Vatikanische Konzil hielt zwar an der Lehre von Trient fest und lehrte: "Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird" (DV 10). Aber das Konzil fügte hinzu, daß die Kirche das Wort Gottes zuerst voll Ehrfurcht hören muß, bevor sie es voll Zuversicht verkünden kann (vgl. DV 1). "Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm" (DV 10). So ist die Heilige Schrift beim Dialog mit den evangelischen Christen "ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet" (UR 21).

Sowohl die katholische wie die evangelische Kirche will also grundsätzlich an der Zusammengehörigkeit von Wort Gottes und Kirche wie an der Überordnung des Wortes Gottes festhalten. Das bis heute kirchentrennende Problem liegt jedoch in der Frage, ob und inwiefern es innerhalb der Kirche lehramtliche Instanzen gibt, die das Wort Gottes verbindlich und unter Umständen unfehlbar auslegen. Das Problem ist also nicht die Schrift und ihre Stellung an sich, sondern ihre verbindliche Auslegung. Die Frage ist: Wie kommt die Autorität der Schrift konkret zur Geltung? Auf diese Frage wird später nochmals ausführlich einzugehen sein.

Neue Probleme sind durch das Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung seit dem 18./19. Jahrhundert entstanden. Sie hat uns einerseits die Reichtümer der Schrift neu erschlossen und zur Erneuerung der Kirche und ihres Glaubens mitbeigetragen. Andererseits wurden dadurch nicht nur einzelne Schriftaussagen, sondern die Schrift insgesamt in eine gegenüber der Tradition
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