Band I - Erster Teil Gott der Vater
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veränderte Perspektive gerückt, in der viele Gläubige nicht nur eine Infragestellung ihres Glaubens, sondern auch der Autorität der Schrift selbst sehen. Zwei Extreme stehen sich gegenüber: Die einen betrachten die Heilige Schrift ganz als Wort Gottes und wollen unter Außerachtlassung des geschichtlichen Charakters der Schrift jede Aussage rein buchstäblich verstehen (Fundamentalismus). Die anderen betrachten die Bibel als rein menschliches Buch, wie jedes andere menschliche Buch auch. Die dabei von ihnen festgestellten Unterschiede und Widersprüche zwischen den einzelnen Schriften und Schichten führen zu einer Relativierung der Schriftautorität und erst recht zu Spannungen und Widersprüchen zur überlieferten kirchlichen Auslegung.

Die heutige kirchliche Schriftauslegung geht den einzig verantwortlichen Mittelweg. Für sie ist die Heilige Schrift ganz Wort Gottes und ganz menschliches Wort. Es gilt daher, in der menschlich-geschichtlichen Gestalt und durch sie hindurch das Wort Gottes zu hören. Irrtumslose Autorität kommt der Schrift allein hinsichtlich der Wahrheit zu, "die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte" (DV 11). Verbindlich ist dabei das Zeugnis der Schrift als ganzer in ihrer Einheit von Altem und Neuem Testament. Die einzelnen Schriftstellen müssen sich also gegenseitig interpretieren (vgl. DV 12). Es gilt, in der Vielstimmigkeit der Schrift die eine Symphonie zu hören (Irenäus von Lyon). Um diesen Gesamtsinn der Heiligen Schrift zu erfassen, müssen wir ausgehen vom heutigen Glaubensbewußtsein der Kirche, vor allem vom kirchlichen Glaubensbekenntnis, wir müssen dieses dann im Spiegel des Ursprungszeugnisses der Schrift interpretieren und dann wieder in den Kontext der gegenwärtigen Kirche übersetzen. Die Kirche interpretiert also die Schrift, aber auch von der Schrift her ergibt sich umgekehrt Wesentliches für die Interpretation der kirchlichen Lehre und Praxis. Sofern sich die historisch-kritische Schriftauslegung in diesen Gesamtprozeß der Interpretation einordnet und sich nicht zur alleinigen und obersten Richterin über den Sinn der Schrift macht, können sich ihre kritischen Anfragen und neuen Problemstellungen fruchtbar für das Glaubensverständnis der Kirche auswirken.


Die Frage, die sich nun stellt, ist: Was ist der Glaube der Kirche? Wo finden wir ihn? Die Kirche ist ja ein nicht weniger vielstimmiger Chor als die Bibel. Woran kann man sich also halten?

7.3 Tradition und Traditionen

Wer spricht "Ich glaube" und wer damit in das größere "Wir glauben" einstimmt, der tritt in einen Traditionszusammenhang ein, der von den Aposteln bis heute reicht. Doch was ist das: Tradition? Wenn wir heute von Tradition sprechen, denken wir gewöhnlich an einzelne althergebrachte Formen und Gewohnheiten, die wir - je nach Einstellung - als altehrwürdig oder als verstaubt ansehen. Oft hat die Tradition für uns nur noch nostalgischen oder folkloristischen Wert. Zwar ist
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