3. Die Grundstruktur des biblischen Ethos
Das biblische Ethos im Alten wie im Neuen Testament baut sich auf der Glaubensüberzeugung auf, daß sich Gott als Heil der Menschen geoffenbart hat, und zwar in einer geschichtlich voranschreitenden Offenbarung bis hin zur endgültigen Offenbarung in Jesus Christus. Die Offenbarung geschah "viele Male und auf vielerlei Weise" einst gegenüber den Vätern durch die Propheten, zuletzt aber durch den Sohn, den er "zum Erben des Alls eingesetzt" hat (Hebr 1,1f). Die dem Menschen als geistbegabtem Wesen verliehene Fähigkeit, mit seiner Vernunft das sittlich Gute zu erkennen, mit freiem Willen zu bejahen und nach Kräften zu erfüllen, wird damit in einen neuen Horizont gerückt. Gott selbst, auf den in seiner Gutheit alles sittliche Tun angelegt ist, hat dem Menschen die Richtung seines sittlichen Verhaltens gezeigt und den Sinn seines Strebens erschlossen. Darum orientiert sich das biblische Ethos am Wort Gottes, wie es die Glaubenden in der lebendig bezeugten Überlieferung und in den biblischen Urkunden erkennen können. Das Wort des Glaubens ist jedem nahe, der es im Herzen annehmen will und mit seinem Mund bekennt (Röm 10,8). Es ist kein "fremdes" Wort, sondern ein sich menschlicher Einsicht erschließendes Wort (Mi 6,8), das ihn zu Menschlichkeit und mitmenschlicher Gemeinschaft zu befreien vermag.
Befreiend wirkt die biblische Verkündigung, daß Gott zuerst seinen Heilswillen offenbart und durch Taten des Heils bekundet. Erst aus der Zusage göttlicher Errettung entspringt der sittliche Imperativ, aus Gottes Gnade und Erbarmen sein Anspruch. Gott begründet einen Bund mit der Menschheit, zunächst mit Israel, dann mit der Völkerwelt. Aufgrund der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten fordert Gott von Israel, seine Gebote (den Dekalog) zu halten. Jesus verkündet die mit ihm hereinbrechende befreiende Gottesherrschaft und ruft dazu auf, sich entsprechend der erfahrenen Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu verhalten. Das Sittliche . erscheint als geschenktes Können, als gnadenhaft gewährte Ermöglichung durch Gott, dann aber auch als bindende Anforderung.
Das Ethos ist zwischen Heilszuwendung und Verheißung endgültigen Heils eingespannt. Beides, Gottes gnadenhafte Initiative und das dadurch ermöglichte, davon getragene menschliche