Band I - Erster Teil Gott der Vater
Seite 53 Seite: 54 Seite 55
Das Trienter Konzil (1545-1563) griff das berechtigte Anliegen der Reformatoren auf. Auch nach dem Konzil kann es keine verbindliche Überlieferung gegen die Schrift geben. Das Konzil erklärte nur die Traditionen als glaubensverbindlich, die die Apostel von Jesus Christus empfangen haben und die von den Aposteln bis auf uns gekommen sind. Alle rein menschlichen oder nur partikularen Traditionen waren damit ausgeschieden. Das setzte das Trienter Konzil instand, eine große Reform und Erneuerung der katholischen Kirche einzuleiten. Aber das Konzil setzte zugleich dem reformatorischen "allein die Schrift" ein "und" entgegen. Das eine Evangelium ist enthalten "in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen". Beide sind "mit gleicher frommer Bereitschaft und Ehrfurcht" anzuerkennen und zu verehren (DS 1501; NR 87-88). Dieses "und" braucht nicht, wie oft geschehen, in dem Sinn verstanden zu werden, als sei die Wahrheit des Evangeliums teils in der Heiligen Schrift und teils in der Überlieferung enthalten. Man kann die Konzilsaussage auch im Sinn der Kirchenväter und der großen Theologen des hohen Mittelalters so verstehen: Die Heilige Schrift enthält in der Substanz den ganzen Glauben, dieser kann aber in seiner Ganzheit und Fülle nur im Licht der Tradition erfaßt werden. So lehrt das II. Vatikanische Konzil: Die Kirche schöpft "ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein" (DV 9).

Aufgrund der ökumenischen Annäherung in unserem Jahrhundert hat die Kontroverse inzwischen vieles von ihrer alten Schärfe verloren. Man hat entdeckt, daß die Überlieferung älter ist als die Schrift und daß die Schrift selbst ein Produkt der urkirchlichen Überlieferung ist. Inzwischen ist es durch manche negativen Folgen der modernen historisch-kritischen Schriftauslegung auch zu einer Krise des reinen Schriftprinzips gekommen. Auf der anderen Seite setzte sich in unserem Jahrhundert in allen Kirchen die Einsicht von der Bibel als Grundlage kirchlicher Lehre und kirchlicher Praxis durch. Das hohe Maß der inzwischen erreichten Annäherung geht aus vielen ökumenischen Dokumenten hervor, besonders aus der Erklärung der Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal (1963) über "Schrift, Tradition und Traditionen". Dennoch bleiben noch wichtige Sachfragen, vor allem die Frage eines kirchlichen Lehramtes, offen. Im wesentlichen sind heute nämlich nicht mehr die grundsätzliche Stellung der Schrift als solcher und die Bedeutung der Tradition als solcher das ökumenische Problem, sondern die Unterscheidung zwischen rechter und irriger Schriftauslegung, zwischen gemeinsam verbindlicher Tradition und den vielfältigen Traditionen, die einen legitimen Reichtum unterschiedlicher Ausdrucksformen des einen Glaubens bezeugen. Die Frage ist deshalb: Wie spricht die auf die Heilige Schrift sich berufende Kirche verbindlich? Wie tut sie dies im Konfliktfall? Damit ist die Frage nach dem kirchlichen Dogma gestellt.

7.4 Brauchen wir Dogmen?

Viele Zeitgenossen tun sich etwas darauf zugute, wenn sie Probleme, wie sie sagen, "undogmatisch" und "pragmatisch" angehen. Das Wort Dogma hat für viele eher einen negativen Klang, weil es die Vorstellung des Unbeweglichen, Engstirnigen, Unfreimachenden nahelegt und Erinnerungen an Inquisition,
Seite 53 Seite: 54 Seite 55