Band I - Erster Teil Gott der Vater
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Einheit sinnlos machen. Die Christen könnten sich dann nicht mehr zum Gottesdienst versammeln und gemeinsam das Glaubensbekenntnis sprechen. Hätte die christliche Wahrheit keine Eindeutigkeit mehr, wäre es auch um die Glaubwürdigkeit des Glaubens in der Welt geschehen. So dürfen wir dankbar sein für die Wohltat, die Gott uns dadurch erweist, daß er seine Kirche durch den Heiligen Geist inmitten von verwirrenden und zerstörenden Unklarheiten immer tiefer in die Wahrheit einführt und daß er dies durch Menschen und auf menschliche Weise tut.

Was also ist ein Dogma? Kein Zusatz zum ursprünglichen Evangelium oder gar eine neue Offenbarung, sondern eine amtliche, für die ganze Kirche verbindliche Auslegung der einen ein für allemal ergangenen Offenbarung, meist in Abgrenzung gegen irrige, verkürzende und verfälschende Interpretationen. Zum Dogma gehört also ein Doppeltes: Es muß sich auf die ursprüngliche und gemeinsame Offenbarungswahrheit beziehen, und es muß amtlich, für alle verbindlich, endgültig vorgelegt werden. Wenn die Kirche dies tut, vertraut sie auf die bleibende Gegenwart Jesu Christi und den Beistand des ihr verheißenen Heiligen Geistes, der sie in alle Wahrheit einführt (vgl. Joh 16,13).

Um der Einheit und Eindeutigkeit des Glaubens willen mußte schon die Urkirche Abgrenzungen vollziehen. Die wichtigste und schmerzlichste Grenzziehung war gegenüber der jüdischen Synagoge notwendig. Das Apostelkonzil in Jerusalem verkündete gegen Christen, die ins Judentum zurückgefallen waren, die Freiheit vom jüdischen Gesetz (vgl. Apg 15). Bereits in diesem Zusammenhang fällt das Wort "Dogmen" (vgl. Apg 16,4). Im gleichen Zusammenhang formuliert Paulus das wohl erste "anathema" der Kirchengeschichte (Gal 1,8-9; vgl. 1 Kor 16,22). Auch an vielen anderen Stellen des Neuen Testaments finden wir bereits feste und verbindliche Bekenntnisformeln (vgl. Röm 10,9; 1 Kor 12,3; 15,3-5 u. a.). Sie wurden durch die ökumenischen Konzilien der alten Kirche vor allem im "Großen Glaubensbekenntnis" weiter entfaltet. Die Abgrenzungen galten jetzt nicht mehr Christen, die ins Judentum zurückfielen, sondern solchen, die heidnische Vorstellungen nicht ganz abgestreift hatten und den christlichen Glauben dadurch verfälschten. Solche Auseinandersetzungen waren auch später immer wieder nötig: im Mittelalter mit Bewegungen wie den Waldensern und Albigensern (besonders das IV. Laterankonzil 1215), im 16. Jahrhundert mit den Reformatoren (Konzil von Trient 1545-1563), in der Neuzeit mit modernen, der Aufklärung entstammenden Irrtümern (zusammenfassend das I. Vatikanische Konzil 1869/70). Anders die beiden marianischen Dogmen von 1854 ("Maria ohne Erbsünde empfangen") und von 1950 ("Maria mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen"). Sie entsprangen weniger der Abgrenzung gegenüber Irrtümern als der vertieften Einsicht in die Stellung Marias in der Heilsgeschichte.
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