Diese dogmatische Lehrentwicklung führte vor allem zur Präzisierung der kirchlichen Sprechweise und zur Vertiefung der Glaubenseinsicht. Bisweilen kam es im Gefolge von Dogmatisierungen freilich auch zu Verengungen, weil die Polemik oft dazu führte, nur das Gegenteil des bekämpften Irrtums festzuhalten, und weil sie verhinderte, das berechtigte Anliegen zu sehen, das hinter manchen einseitigen Formulierungen stand. Das war mit ein Grund dafür, daß das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) zwar kein einziges Dogma der Vergangenheit zurücknahm, aber auch kein neues aufstellte, sondern sich für eine positive Darlegung der Wahrheit entschied. Diese positive, "pastorale" Sprechweise darf freilich nicht mißverstanden werden. Denn ihren richtig verstandenen pastoralen Dienst tut die Kirche den Menschen gerade dadurch, daß sie die Wahrheit verkündet.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Endgültigkeit, mit der Dogmen vorgelegt werden, nicht ausschließt, daß Dogmen in der Sprache ihrer Zeit sprechen, so daß ihr Sinn von der Aussagekraft der zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen angewandten Sprache abhängt. Man muß also unterscheiden zwischen den Glaubenswahrheiten selbst und ihrer Aussageweise (vgl. GS 62). Zu dieser Geschichtlichkeit der Dogmen gehört auch, daß sie die Wahrheit bisweilen zwar nicht falsch, aber in der begrenzten Perspektive der Fragestellung ihrer Zeit und ihrer Aussagemöglichkeiten ausdrücken. Kein einzelner Satz, auch kein Dogma kann die Fülle des Evangeliums ausschöpfen. Jeder sagt die eine unendliche Wahrheit, das Geheimnis Gottes und seines Heils in Jesus Christus, in endlicher und damit unvollkommener, verbesserungs-, erweiterungs- und vertiefungsfähiger Weise aus. Das heißt nicht: in veränderlich approximativer, unbestimmt annäherungshafter Weise. Ein solcher dogmatischer Relativismus widerspräche dem zentralen Geheimnis des Glaubens, wonach Gott in Jesus Christus in endgültiger Weise in eine bestimmte menschliche Gestalt eingegangen ist und ihr endgültige Bedeutung gegeben hat. Auch wenn die Dogmen keine Verlängerung der Menschwerdung sind, so besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit (Analogie). Die Dogmen sollen ja die Menschwerdung in abbildhafter (analoger) Weise vergegenwärtigen. Deshalb ist auch die dogmatische Wahrheit in einer bestimmten Gestalt endgültig verbindlich (vgl. Mysterium Ecclesiae 5).
Versteht man die Dogmen in dieser Weise, dann sind sie in ihrer konkreten Verbindlichkeit zugleich offene Formeln, offen in ein grenzenloses Geheimnis hinein. Nicht weil sie falsch sind, sondern gerade weil sie wahr sind, weisen sie über sich hinaus. Sie müssen darum immer wieder lebendig interpretiert werden. Dogmatische Tradition ist nur durch Interpretation möglich. Dogmen müssen interpretiert werden im Blick auf die Heilige Schrift und die gesamte, meist viel umfassendere Tradition, wie im Blick auf die damalige und die heutige Situation (die "Zeichen der Zeit"). Dabei muß man jedes einzelne Dogma im Zusammenhang aller übrigen Glaubenswahrheiten verstehen und auf die Hierarchie der Wahrheiten, d. h. auf das Strukturganze der Glaubensaussagen achten (vgl. UR 11). Man muß die Dogmen wägen und nicht zählen! Vor allem müssen die einzelnen Dogmen als Entfaltung oder Absicherung des einen und im Grunde einzigen - weil alles umfassenden - Inhalts des Glaubens verstanden werden: Gottes Heil in Jesus Christus. Dies ist das eine Dogma in den vielen Dogmen, das eine Wort in den vielen Worten der dogmatischen Überlieferung.
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