Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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(Philosoph) diesen Platz einnehmen. Ihnen ist die Tugend der Klugheit zugeordnet, die den einzelnen Menschen sowie die Staatenlenker bestimmen soll. Sowohl im Zusammenwirken der Seelenkräfte wie auch innerhalb der verschiedenen Aufgaben der Gesellschaft regelt die Gerechtigkeit die Beziehungen des einzelnen zur Gemeinschaft und bewirkt auch eine sinnvolle Harmonie der inneren Kräfte des Menschen. Die Regelung des Bereiches Gemüt und Gefühl, in dem der Mensch nach Plato auch seine Aggressivität wie umgekehrt Ängste erfahren kann, wird von der Tapferkeit geleistet; diese ist zugleich die Tugend des Kämpfers, der den Staat verteidigt. Die unterste Schicht des bewußten seelischen Lebens wird als begehrender Teil bezeichnet; in ihr erlebt der Mensch die Dynamik seiner vitalen Bedürfnisse. Diesem Teil ist die Tugend des Maßhaltens zugeordnet. Die Erfüllung der hier anstehenden Bedürfnisse besorgt der dritte Stand im Staat, der Nährstand.

Zusammen mit den Ideen der Stoa haben diese vier Tugenden Kardinaltugenden in die spätere christliche Tugendlehre Eingang gefunden. Im christlichen Verständnis, besonders bei Augustinus, aber auch bei anderen Kirchenvätern wie Ambrosius und Gregor dem Großen, werden die Kardinaltugenden als Erscheinungsformen der Liebe Gottes gedeutet. Thomas von Aquin entfaltet später sogar seine ganze Ethik als Tugendethik und behandelt nach den theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) die einzelnen Kardinaltugenden. Sie bilden die Grundlage seiner gesamten materialen Ethik.

Klugheit als erste und oberste Kardinaltugend ist nicht mit bloßer Intelligenz gleichzusetzen. Sie besteht vielmehr in der Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Ihr kommt ein kompetentes Urteil über ethische Sachverhalte zu. Sie macht den Menschen fähig, von sich selbst abzusehen. Wer die Goldene Regel der Bergpredigt richtig anwenden will, kann das nur, indem er "über den eigenen Schatten springt" und sein Handeln aus einer höheren Perspektive beurteilt. Gerade das aber ist im ethischen Handeln gefordert. Thomas von Aquin beruft sich bei seinen Ausführungen über die Tugend der Klugheit auf ein Wort bei Augustinus: "Die Klugheit ist die Liebe, die das, was uns hilft in unserem Streben nach Gott, von dem, was uns daran hindert, gut unterscheiden kann" (S. th. II II q. 47, art. 1). Dieser Gedanke erinnert an den Apostel Paulus, der den Philippern schreibt: "Und ich bete darum, daß eure Liebe immer noch reicher an
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