Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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Einsicht und Verständnis wird" (1,9). Je mehr jemand in der Grundhaltung der Liebe lebt, um so mehr ist er im praktischen Urteil in der Lage, zu beurteilen, was dieser Liebe entspricht. Dieses gesunde, geistgelenkte Urteil kommt der Tugend der Klugheit zu. Ihre Aufgabe ist es, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, vor allem im ethischen Bereich. Sie ist jene Haltung, die eine Instrumentalisierung der Vernunft für andere Zwecke (zum Beispiel in der Schlauheit von jemand, der nur seine eigenen Interessen verfolgt) verhindert. Sie stellt den objektiven Wirklichkeitsbezug ständig neu her. Wenn die Theologie von einer Gabe des Geistes spricht, die wir biblisch Weisheit nennen, so zielt sie genau auf die Ermöglichung dieser Haltung der Klugheit hin. Klugheit in diesem Sinn ist somit das Ziel jeder Gewissensbildung, die den Menschen zu einem objektiven sittlichen Urteil befähigt.

Die Tugend der Klugheit hat insbesondere darin ihre Bedeutung, daß sie den Menschen befähigt, sich ein Urteil über die Folgen seines Handelns zu bilden. Dazu ist in immer höherem Maße Sach- und Erfahrungswissen erforderlich, das verantwortliche Entscheidungen erst ermöglicht. Wo der Mensch sich solcher Naturkräfte bedient, für die er kein unmittelbares eigenes Gespür hat, reicht unmittelbare ethische Intuition nicht aus. Hier kann verantwortlich nur handeln, wer das nötige Wissen erworben hat und die rechte Unterscheidungsgabe besitzt.

Gerechtigkeit ist, wie Thomas von Aquin formuliert, die feste und beständige Grundhaltung, jedem das Seine zu geben (S. th. II II q. 58, art. 1). Sie ist unter den Kardinaltugenden die sozialethisch bedeutsamste Grundhaltung. Entsprechend den interpersonalen, gesellschaftlich-sozialen und politischen Beziehungen werden drei Arten von Gerechtigkeit unterschieden: Die "austauschende" (kommutative) Gerechtigkeit sichert den Rechtsanspruch von einzelnen gegenüber einzelnen und von Gemeinschaften gegenüber Gemeinschaften bei Rechtsgeschäften; die "zuteilende" (distributive) Gerechtigkeit gewährleistet vom sozialen Ganzen her Rechte der einzelnen; die "gesetzliche" (legale) Gerechtigkeit betont umgekehrt die Rechtsverpflichtung der einzelnen gegenüber Gesellschaft und Staat. Diese Unterscheidung ist insofern hilfreich, als sie die Verflochtenheit der Gerechtigkeit in den unterschiedlichen Beziehungen erkennen läßt.
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