Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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die Verfehlungen des Menschen auf die Gesellschaft, auf die Bedingungen der Umwelt oder charakterliche Vorgegebenheiten abzuwälzen. Manchmal wird die Verantwortung des Menschen als so sehr eingeschränkt betrachtet, daß ihm gar nicht mehr die Fähigkeit zugeschrieben wird, wahre menschliche Akte zu setzen und somit auch zu sündigen.

Ferner schwindet das Gespür für persönliches Versagen und Sünde, wo der Sinn für bleibende bindende Werte aus dem Blick gerät und das Handeln der Beliebigkeit anheimgegeben wird.

Auch im Denken und Leben der Kirche gibt es Erscheinungen, die dazu beitragen, daß das Sündenbewußtsein schwindet oder ein falsches Sündenbewußtsein entwickelt wird. Nicht selten werden übertriebene Einstellungen der Vergangenheit durch neue Übertreibungen ersetzt: Während früher die Neigung bestand, in beinahe allem und jedem Sünde zu sehen, gelangen nicht wenige heute dazu, sie nirgendwo mehr zu sehen; während früher in der Verkündigung die Furcht vor ewiger Strafe überbetont wurde, findet sich heute weithin eine Verkündigung der Liebe Gottes, die jede für Sünde verdiente Strafe ausschließt; während früher ein starkes Bemühen vorherrschte, das irrige Gewissen zu ändern, besteht heute die Tendenz, die Achtung all dessen, was sich als Gewissen ausgibt, so überzubetonen, daß seine Verpflichtung, nach der Wahrheit zu suchen, zu wenig berücksichtigt wird (vgl. RP 18).

Ein Zeichen dafür, daß das Bewußtsein für Sünde als Gespür und wache Aufmerksamkeit für das Böse und für das Versagen vor Gott bei vielen Christen schwächer geworden, verkümmert oder verfälscht ist, wird auch an der Einstellung zum Bußsakrament als Feier der Versöhnung mit Gott und der Vergebung der Sünden deutlich. Zwar sehen manche in der kirchlichen Regelung über die verschiedenen Formen der Bußfeier eine wertvolle Hilfe für eine lebendige Gestaltung der Praxis des Bußsakramentes (vgl. Ordo Paenitentiae von 1974); aber andere nehmen sie zum Anlaß, das Bußsakrament aufzugeben und die Bußandacht als ausreichend zu betrachten. Darin zeigt sich nicht nur eine Krise des Bußsakramentes, sondern auch eine Krise des Sündenbewußtseins und des Sündenverständnisses.
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