Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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bleiben oder nicht in genügendem Ausmaß gegeben werden, kann es geschehen, daß er in seinem moralischen Vermögen beeinträchtigt ist. Die Schuld für sein Versagen liegt dann nicht ausschließlich bei ihm selbst, sondern zum Teil auch bei denen, die für seine moralische Erziehung mitverantwortlich waren oder ihm ihre Zuwendung versagt haben. Allerdings darf die Tatsache, daß moralisches Versagen auch sozial bedingt ist, nicht dazu führen, daß alle Schuld immer auf die anderen abgeschoben wird. Jeder ist zunächst einmal für sein Tun selbst verantwortlich.

Die persönliche Verantwortung für das eigene Tun schließt aus, daß es eine Kollektivschuld gibt. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung; wird sie nicht hinreichend wahrgenommen, können wir miteinander schuldig werden. Wer zum Beispiel einen Mitmenschen zu einer Sünde verführt oder anleitet, ist für dessen Sünde mitverantwortlich; er trägt möglicherweise sogar die Hauptschuld. Auch eine Gesellschaft, die durch ihre Einstellung und ihr Verhalten bei den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft Fehlhaltungen fördert, wird an deren Fehlhaltungen mitschuldig.

Durch Sünde kann das gesamte gesellschaftliche Milieu verdorben werden. "Wenn aber einmal die objektiven Verhältnisse selbst von den Auswirkungen der Sünde betroffen sind, findet der mit Neigung zum Bösen geborene Mensch wieder neue Antriebe zur Sünde" (GS 25). Somit besteht zwischen persönlicher und sozialer Sünde ein Wechselverhältnis. Die in den Strukturen verfestigte Sünde bzw. die "sündigen Strukturen" können die Personen innerlich so prägen, daß sie in ihnen gewissermaßen eine Barriere gegen das Gute schaffen und so zu persönlichen Sünden geradezu disponieren. Nach dem Katechismus der Katholischen Kirche stellen die "sündigen Strukturen" in einem analogen Sinn eine "soziale Sünde" dar (1869).

Zwar ist eine Situation, eine Institution, eine Struktur oder eine Gesellschaft an sich kein Subjekt moralischer Akte und kann deshalb auch nicht in sich selbst moralisch gut oder schlecht sein, weil dahinter immer sündige Menschen stehen, die erst eine von der Sünde geprägte Struktur schaffen (RP 16), aber die Struktur gewordene Sünde kann die Glieder der Gesellschaft in einen Schuldzusammenhang verstricken, der gleicherweise die persönliche Umkehr wie die Änderung der Strukturen fordert.
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