Band I - Erster Teil Gott der Vater
Seite 92 Seite: 93 Seite 94
Auseinandersetzungen. Oft brachte man das Problem auf die schiefe Alternative: Stammt der Mensch von Gott oder vom Affen ab?

Diese Konflikte haben sich in unserem Jahrhundert entschärft. Das hängt einmal damit zusammen, daß die modernen Naturwissenschaften heute deutlicher als früher ihre eigenen Grenzen erkennen. Sie wissen, daß sie die Wirklichkeit immer nur unter einem Gesichtspunkt erkennen und so grundlegende Phänomene wie Raum und Zeit nur relativ zum Standort des Beobachters bestimmen können (Relativitätstheorie von A. Einstein). Bei der Erforschung der kleinsten Teile der Materie ergab sich, daß wir dafür komplementäre Vorstellungen wie Welle und Korpuskel benutzen müssen (Unschärfe-Relation in der Quantentheorie von N. Bohr und W. Heisenberg). So mußte der klassische Begriff der Materie aufgegeben werden, ohne daß bisher ein eindeutiger und einheitlicher neuer Begriff möglich wäre. Die heutige Naturwissenschaft ist also trotz aller großen und imponierenden Erfolge im einzelnen gegenüber früher bescheidener geworden, wenn es um die Gesamtdeutung der Wirklichkeit geht.

Schärfer achtet auch die Theologie auf ihre Grenzen. Sie weiß heute, daß die Bibel sich in ihrer Ausdrucks- und Vorstellungsweise des Weltbilds der damaligen Zeit bedient, das als solches für uns nicht verbindlich ist. Ihrer Aussageintention nach will uns die Bibel nicht über die empirisch erkennbare Entstehung der Welt und der verschiedenen Arten der Lebewesen unterrichten. Sie will vor allem sagen, daß Gott der Schöpfer der Welt und ihr Heil ist. Es ist darum kein Gegenstand des Glaubens, daß Gott die Welt, wie es die Bibel bildhaft darstellt, in sechs Tagen geschaffen hat und daß er alles am Anfang so geschaffen hat, wie wir es heute vorfinden.

Wenn wir die theologische Aussageabsicht der biblischen Schöpfungsberichte von deren weltbildbedingter Einkleidung unterscheiden, stellt sich das entscheidende Sachproblem: das Verhältnis Schöpfung und Evolution. Die meisten Vertreter der heutigen Naturwissenschaft gehen von der Hypothese aus, daß alles materielle Sein auf dem Weg der Evolution zu immer höheren Seinsund Lebensformen geführt wird bis hin zum Menschen, dem Ziel der Evolution. Danach wäre die Welt vor etwa 12 Jahrmilliarden, unsere Erde vor etwa 5-6 Milliarden Jahren entstanden, vor etwa 3 Milliarden Jahren das erste Leben aufgetreten, während sich menschliches Leben "erst" seit rund 2 Millionen Jahren findet.

Wie verhält sich diese Auffassung zum Schöpfungsglauben? Selbstverständlich ist die materialistische Entwicklungslehre theologisch abzulehnen, die eine ungeschaffene Materie annimmt, aus der alle Lebewesen, auch der Mensch, nach Leib und Seele durch rein mechanische Entwicklung entstanden sind. In dieser weltanschaulichen Weise wird die Evolutionslehre heute von den allermeisten Wissenschaftlern nicht mehr verstanden. Heute setzt sich nämlich immer mehr die Meinung durch, daß Schöpfung und Evolution Antworten auf jeweils ganz verschiedene Fragen sind und deshalb auf verschiedenen Ebenen liegen. Evolution ist ein empirischer Begriff, der auf die Frage nach dem "horizontalen" Woher und dem raum-zeitlichen Nacheinander der Geschöpfe eingeht. Schöpfung dagegen ist ein theologischer Begriff und fragt
Seite 92 Seite: 93 Seite 94