Band II - Erster Teil Ruf Gottes - Antwort des Menschen
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2. Normen als Gebot Gottes und als Gebot der Vernunft

2.1. Gott als tragender Grund des Ethos

Die Einsicht, daß Normen verbindliche Orientierungen sind, hat dazu geführt, daß alle Völker und Kulturen eine sittliche Ordnung anerkennen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft verpflichtend ist. Worin ist der letzte Grund der sittlichen Ordnung und ihrer Normen zu sehen?

Die Geschichte des alttestamentlichen Gottesvolkes zeigt uns, daß Quelle und letzter Grund der sittlichen Ordnung und ihrer Gebote Gott selbst ist. Er hat sein Volk befreit und erwählt und ihm im Sinaibund sein Gesetz gegeben. Die Thora, die Weisung Gottes, ist Heilsgabe Gottes. An den Zehn Geboten soll sich das Gottesvolk auf seinem Weg mit Gott orientieren. Im Anspruch der Gebote begegnet es Gott. Das ist die Grundstruktur allen gläubig-sittlichen Handelns. Weil Gott den Menschen erschaffen und ihm die Grundforderung des Sittengesetzes als verbindliches Gesetz eingeschrieben hat und weil er dem Volk im Bund seine Weisung gegeben hat, kann es gläubig-sittliches Handeln nur als Handeln vor Gott geben (vgl. dazu VS 35-53).

Im Neuen Bund hat das Ja Gottes zu den Menschen in Jesus Christus greifbare Gestalt angenommen (vgl. 2 Kor 1,19f). Jesus lebt und verkündet ein Ethos, das den Menschen in neuer und tieferer Weise zu Gott und damit zu sich selbst kommen läßt. Er hebt die Gebote nicht auf, sondern stellt sie in einen neuen Zusammenhang von Erlösung und Befreiung. Die Erlösung, die er schenkt, ist die Befreiung von den Mächten des Bösen und von der Macht des Todes. Wer sich an ihn, an sein Wort und an seine Weisung hält, trägt zum Heil der Menschen und zu seinem eigenen Heil bei.

Nach christlichem Glauben hat somit das Ethos seinen letzten tragenden Grund in Gott selbst. In jedem Gebot und in jeder sittlichen Tat geht es um den Menschen und um seinen Weg mit Gott. Mitte des Ethos ist die Liebe. Wo das Verhalten des Menschen nicht von der Liebe getragen ist, da ist es nichts, mögen die äußeren Werke auch noch so bedeutend sein (vgl. 1 Kor 13).
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