Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
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Wenn schon nicht alle Traditionen des Neuen Testaments die jungfräuliche Geburt Jesu kennen, kann dann der Christusglaube nicht auch heute ohne dieses Motiv auskommen?

3. Das Motiv der Jungfrauengeburt bei Matthäus und Lukas steht in einer größeren Tradition. Das Alte Testament kennt eine Reihe von wunderbaren Geburtsgeschichten großer Rettergestalten: Jakob, Isaak, Simson, Samuel bis hin zu Johannes dem Täufer. Diese Tradition soll durch das Motiv der Jungfrauengeburt aufgegriffen und zugleich überboten werden; Jesus soll dadurch als die überbietende Erfüllung des Alten Testaments verkündet werden. Manche Forscher leiten dieses Motiv sogar aus hellenistischen oder ägyptischen Parallelen ab. So wird die Frage gestellt: Ist das Motiv der Jungfrauengeburt ein damals mehr oder weniger geläufiges literarisches Schema, das als Aussageform für einen theologischen Inhalt verstanden werden muß?

Wir können die Antwort auf diese Fragen hier nur andeuten. Es wurde schon deutlich, daß man aus der literarischen Form der Haggada nicht auf die Nichttatsächlichkeit schließen kann. In dieser Hinsicht sind die beiden neutestamentlichen Texte also für ein tatsächliches Verständnis offen, und es kann keinerlei Zweifel daran bestehen, daß sie selbst ihre Aussagen wörtlich gemeint haben. Das Argument, daß diese Texte in ihrer jetzigen Gestalt einer erst jüngeren Traditionsschicht angehören, besagt sachlich nichts. Denn ob ein Text jünger oder älter ist, entscheidet nicht über seinen Wahrheitsgehalt. Im übrigen enthalten beide Texte, wie aus ihrer stark semitisch gefärbten Sprache hervorgeht, wesentlich ältere Tradition, die in den palästinischen Raum zurückverweist. Ihre Glaubwürdigkeit wird zusätzlich noch dadurch gestärkt, daß Matthäus und Lukas diese ältere Tradition unabhängig voneinander bezeugen. Auch die Tatsache, daß Jesus an manchen Stellen des Neuen Testaments als Sohn Josefs bezeichnet wird, ist kein zwingender Einwand. Denn nach jüdischem Recht trugen sowohl leibliche als auch adoptierte Söhne den Namen des Vaters.

Bleibt also das religionsgeschichtliche Argument. Die Ableitungen aus dem hellenistischen oder ägyptischen Raum halten genauer Nachprüfung nicht stand. Es gibt verwandte Motive, aber keine wirklichen Parallelen; im übrigen sind Analogien keine Genealogien. Anders ist es mit den Entsprechungen im Alten Testament. Sie sind für die beiden neutestamentlichen Texte von grundlegender Bedeutung, freilich so, daß das Neue Testament das Alte Testament nicht nur wiederholt, sondern auch überbietet. Diese Feststellung ist wichtig für die Frage, ob Jes 7,14 im hebräischen Urtext von einer Jungfrau spricht, wie die griechische Übersetzung und die Auslegung der Kirchenväter meinen, oder von einer jungen Frau, d. h. von einem Mädchen im heiratsfähigen Alter, wie die meisten heutigen Exegeten sagen. So oder so bezeugt Jesaja das Wunder eines neuen, von Gott gesetzten Anfangs, auf das der Glaube setzen muß. Dieses Wunder sieht das Neue Testament in der jungfräulichen Geburt Jesu gegeben.

Das kirchliche Dogma spricht nicht nur von der jungfräulichen Geburt Jesu; vielmehr hat bereits das fünfte allgemeine Konzil zu Konstantinopel (553) dieses Bekenntnis ausgeweitet zum Dogma von der immerwährenden Jungfrauschaft Marias. Dieses Dogma besagt, daß Maria nicht nur vor der Geburt, sondern auch in der Geburt wie nach der Geburt Jesu jungfräulich blieb
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