Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
Seite 173 Seite: 174 Seite 175

3. Die Jungfrau Maria

3.1 Ein schwieriger historischer Befund

"Geboren von der Jungfrau Maria", dieser Satz aus dem Credo hat ein biblisches Fundament. Die beiden Kindheitsgeschichten bei Matthäus (vgl. 1,18-25) und Lukas (vgl. 1,26-38) decken diese Aussagen. Nach der lukanischen Verkündigungsgeschichte fragt Maria den Engel, der die Menschwerdung des Immanuel in ihrem Schoß ankündigt: "Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?" (Lk 1,34). Gemeint ist: "da ich mit keinem Mann in ehelicher Gemeinschaft zusammen wohne". Die Antwort des Engels bezeichnet die Empfängnis Jesu Christi durch Maria als schöpferische Wundertat des Geistes Gottes: "Für Gott ist nichts unmöglich" (Lk 1,37). Noch deutlicher ist die Erzählung des Matthäus. Im Traum erklärt ein Engel Josef, dem Verlobten Marias, wie es sich mit deren Mutterwerden verhält: "Das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist" (Mt 1,20). Darin erkennt Matthäus die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung, die er nach griechischer Übersetzung zitiert: "Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären" (Jes 7,14).

So eindeutig die Bekenntnisaussage von der jungfräulichen Geburt Jesu in diesen beiden Texten begründet ist, so viele Schwierigkeiten macht sie heute, wenn wir die biblischen Texte mit Hilfe der modernen historisch-kritischen Methoden auslegen. Drei solcher historischer Schwierigkeiten seien genannt:

1. Die Texte bei Matthäus und Lukas sind keine historischen Berichte in unserem heutigen Sinn. Man kann sie freilich auch nicht als ungeschichtliche Sagen oder Legenden abtun, sondern muß sie eher als fromme erbauliche Erzählungen (Haggada) verstehen, die alttestamentliche Überlieferung im Lichte der neutestamentlichen Erfüllung wiedererzählen. Ereignis und theologische Deutung, Bericht und Bekenntnis sind dabei unauflöslich miteinander verwoben. Solche Erzählungen schließen einen historischen Kern ein. Dennoch darf man sie nicht primär nach historischen Tatsachen befragen, sondern muß sie auf ihre Bekenntnisaussage hin abhorchen. So wird oft die Frage gestellt: Ist das Motiv der jungfräulichen Geburt ein bloßes Aussagemittel für eine Glaubensaussage, oder gehört es selbst mit zur Glaubensaussage hinzu?

2. Es gibt Schichten und Schriften des Neuen Testaments, vor allem die paulinischen Briefe, die im Unterschied zu Matthäus und Lukas das Motiv der Jungfrauengeburt nicht erwähnen. In den Evangelien wird Jesus gelegentlich sogar ausdrücklich als der Sohn des Josef bezeichnet (vgl. Mt 13,55; Lk 4,22; Joh 1,45; 6,42); oder es ist einfach von den Eltern Jesu die Rede (vgl. Lk 2,27.41.43.48). Es scheint sich bei der Jungfrauengeburt also um eine partikuläre und relativ späte Tradition zu handeln. So stellt man oft die Frage:
Seite 173 Seite: 174 Seite 175