Band I - Erster Teil Gott der Vater
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am sechsten Tag. Am Schluß heißt es zusammenfassend: "Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,31). Anders die zweite, ältere Schöpfungserzählung. Für sie ist der Mensch nicht der Höhepunkt, sondern der Mittelpunkt der Schöpfung. Deshalb wird die Erschaffung der Welt nur knapp und kurz angedeutet, dafür aber die Erschaffung des Menschen sehr breit und plastisch erzählt:
"Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte... Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen." (Gen 2,4b.7)
Beide Schöpfungsgeschichten sprechen die Sprache ihrer Zeit und benutzen Vorstellungen der damaligen Kultur. In dieser uns heute fremden Gestalt bringen sie freilich einen Inhalt zum Ausdruck, der nicht aus dem damaligen Weltbild stammt, sondern das Ergebnis des Weges Gottes mit dem Volk Israel war und eine Offenbarungs- und Glaubenswahrheit darstellt. In seiner Geschichte erfuhr Israel immer wieder: Die Herrschaft Gottes hat keine Grenzen. Gott ist nicht nur der Herr Israels, sondern der Herr aller Völker, der ganzen Welt. Er kann ja Israel und dem einzelnen Gläubigen nur helfen, wenn er der allmächtige Vater aller Wirklichkeit ist. So mußte Israel immer wieder sprechen: "Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat" (Ps 124,8), ein Psalmvers, der uns in der Liturgie der Kirche oft begegnet. Der Glaube an die Schöpfung ist die äußerste Ausweitung der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Die Schöpfung ist sozusagen die Vorgeschichte, der Einleitungsakt und die Voraussetzung der übrigen Geschichte. Die Schöpfung ist die erste der Offenbarungstaten Gottes. Sie ist die bleibende Grundlage unseres Gottesverhältnisses und Gottesverständnisses.

Die Schöpfung ist der Anfang, der auf die Vollendung hingeordnet ist. Das bringt der erste Schöpfungsbericht dadurch bildhaft zum Ausdruck, daß er Gott am siebten Tag, nachdem er sein Werk vollbracht hat, ruhen läßt (vgl. Gen 2,2). Damit soll nicht gesagt werden, daß Gott von seiner Arbeit müde geworden sei; vielmehr ist gesagt: Das Ziel der Schöpfung ist der Sabbat, die Verherrlichung Gottes. Deshalb schreibt Paulus, die ganze Schöpfung warte sehnsüchtig und unter Geburtswehen
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