Band I - Zweiter Teil Jesus Christus
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Botschaft ist diese aber durch eine eigentümliche Freiheit in der Auslegung des Gesetzes charakterisiert. Jesus stößt durch die Fülle von Einzelbestimmungen immer wieder zum ursprünglichen Willen Gottes durch. Der Mensch soll sich nicht hinter der korrekten Erfüllung des Gesetzes verschanzen; er soll seinen Blick auf den Menschen richten, der seiner Hilfe bedarf. Neben die Seligpreisungen der Armen und Unterdrückten (vgl. Mt 5,3-12; Lk 6,20-26) treten die Warnungen an die Reichen (vgl. Mt 6,24; Mk 10,23.25; Lk 16,19-31) und die Anklage der Mächtigen, die ihre Macht mißbrauchen (vgl. Mk 10,42). Den Einflußreichen und Herrschenden in seinem Volk hält er entgegen: "Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr" (Mt 21,31).

Von grundlegender Bedeutung sind die Seligpreisungen der Bergpredigt. Das Lukasevangelium berichtet vier Seligpreisungen: "Selig, ihr Armen", "selig, die ihr jetzt hungert", "selig, die ihr jetzt weint", "selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen... um des Menschensohnes willen" (Lk 6,20-22). Diese Umkehr aller irdischen Wertmaßstäbe ist gerade bei Lukas durchaus realistisch gemeint. Dennoch geht es nicht um eine irdische Umwälzung, um ein soziales oder politisches Programm. Die Seligpreisungen der Bergpredigt stehen vielmehr im Gesamtzusammenhang der Verkündigung Jesu von der herangekommenen Herrschaft Gottes. Das Matthäusevangelium hat die Seligpreisungen aus dem Geist der Botschaft Jesu "vergeistigt" und erweitert. Es spricht von denen, "die arm sind vor Gott", und es preist die selig, "die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit". Es fügt hinzu die Seligpreisungen der Gewaltlosen, Barmherzigen, Herzensreinen und Friedensstifter (vgl. Mt 5,5-10). Mit alledem sind die gemeint, die von der Welt nichts zu erwarten haben, aber alles von Gott erwarten, die sich also auf die Botschaft von der Herrschaft Gottes und seine Barmherzigkeit und Liebe einlassen und aus ihr leben. Diese schon im Alten Testament bezeugte Armut und dieser Dienst am Frieden aus dem Geist des Evangeliums, die hier von den Jüngern Jesu gefordert werden, sind nicht ein neues Gesetz, welches man ohne weiteres auf die ganze Gesellschaft übertragen kann. Die Seligpreisungen der Bergpredigt appellieren vielmehr an das Herz des Menschen, sich von Gottes Erbarmen und Liebe ergreifen zu lassen. Damit setzen sie indirekt auch Maßstäbe für das innerweltliche Verhalten. Ihre konkrete Anwendung im Bereich der Gesellschaft und der Politik
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