Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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durch politische und parlamentarische Opposition nicht möglich war, hatten die Aktionen eher den Charakter des Zeugnisses bzw. Bekenntnisses. Aus bekennenden und betenden Gruppen erwuchs auch der friedliche Widerstand, der in den totalitären sozialistischen Staaten schließlich zur grundsätzlichen Wende führte.

Ähnlich stellt sich die Frage nach dem Recht auf Widerstand dort, wo Völkern von ihren Regierungen Grundrechte vorenthalten oder wo Völkern oder große Bevölkerungsteile durch "ungerechte Strukturen" unterdrückt und ausgebeutet werden.

In vielen Ländern der Erde sind die Völker heute nicht mehr bereit, die bestehenden Verhältnisse in ihren Ländern als unabänderliches Schicksal hinzunehmen, zumal ungerechte Strukturen, die Unterdrückung, Analphabetentum, Verwahrlosung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung bewirken, von der Verantwortung des Menschen abhängen und auch von ihm verändert werden können.

Manche Völker verstehen deshalb ihren Widerstand gegen bestehende Strukturen als Mittel zur Befreiung von ungerechten Strukturen und Systemen, in welche persönliches ungerechtes Verhalten, Korruption, Verschwendung, Machtstreben und Menschenverachtung eingeflossen sind, so daß diese selbst gewissermaßen zu "sozialen Sünden" geworden sind (vgl. RP 16). Manche der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Befreiungsbewegungen streben nach gewaltsamer Veränderung durch Revolution. Andere wollen Veränderungen durch Reformen erreichen. Wieder andere, besonders in den christlichen Basisgemeinden, suchen, ausgehend von einer Theologie der Befreiung und einer besonderen "Option für die Armen", in solidarischer Hilfe Not und Armut zu mildern und mit unterschiedlichen Mitteln eine Änderung der Strukturen, Institutionen und Systeme zu erreichen.

Die Theologie der Befreiung geht von der Frage aus, wie man angesichts des unermeßlichen Leidens der Armen in den lateinamerikanischen Ländern von der Liebe Gottes und von seiner Zuwendung zu den Armen sprechen und in solidarischer Hilfe dieses Leiden überwinden kann. Das sind die Grundmotive der Befreiungstheologie. Die lateinamerikanische Bischofskonferenz machte sich auf ihrer Generalversammlung 1968 in Medellin mit der "vorrangigen Option für die Armen" eine grundlegende Einsicht der Befreiungstheologie zu eigen. Papst Paul VI. wies darauf hin, daß man die Begriffe der Befreiung und des Heils in einem richtig verstandenen Sinne gleichwerten kann: "Das Wort Befreiung verdient also einen Platz im christlichen Wortschatz nicht nur wegen seiner Ausdruckskraft, sondern um des tiefer liegenden Inhalts willen" (Ansprache vom 31. 7. 1974). Papst Johannes Paul II. spricht ausdrücklich von der lateinamerikanischen Theologie, die die Befreiung zur Grundkategorie und zum Handlungsprinzip für die Lösung der Probleme des Elends und der Unterentwicklung erhebt (vgl. SRS 46). - Die bewegende Kraft der Botschaft, daß Erlösung auf befreiende Praxis zielt, hat zu einem Aufbruch geführt, der eine Veränderung der menschenunwürdigen Verhältnisse herbeiführen
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